Du bist nicht allein!


Liebe Gemeinde,


Corona wirbelt unser ganzes Leben durcheinander. Wir kommen damit besser oder schlechter zurecht. Viele Maßnahmen sind notwendig, allerdings schränken sie unser Leben auch spürbar ein. In der Regel finde ich die Zumutungen trotzdem erträglich. Dass man mehr Abstand halten soll, finde ich sogar gut. Oft sind mir für meinen Geschmack Menschen zu nahegekommen – im Bus oder in der Straßenbahn. Aber ich erlebe auch Momente, in denen diese fehlende Nähe äußerst schmerzhaft ist. Diese Erfahrung habe ich in einen Text einfließen lassen, den ich für die Sonntagsausgabe der „Anstöße“, eine Verkündigungssendung im SWR1- und SWR4-Radioprogramm gemacht habe. Ich verarbeite darin, die Einsicht, dass Nähe für uns Menschen wichtig ist, manchmal weniger, aber manchmal auch sehr wichtig. Ich lade Sie ein, diese Andacht zu lesen – vielleicht haben Sie sie ja auch gehört.


Du bist nicht allein

Die alte Dame greift ins Leere. Sie hat die Hand ein wenig zur Seite ausgestreckt. Als sie merkt, dass da nichts ist, blickt sie kurz hoch. Es fällt ihr wieder ein. Corona. Abstand. Sie blickt zu ihrem Sohn. Er sitzt zu weit entfernt. Sie lässt die Hand wieder sinken. Ich bemerke ihren Wunsch.



Ich stehe in der Trauerhalle. Ich halte eine Beerdigung. Der Mann der alten Dame ist gestorben. Und sie kann keine Hand halten.


Eine Welle der Trauer überflutet mich. Ich sehe die alte Dame an und sie sieht mich an. Ich sage: „Du bist nicht allein.“


Sarah steht an der Tür. Sie ist vier Jahre alt, ein kleines Mädchen mit unheimlich großen Augen. Ganz blau, ganz strahlend. Ich habe Sarah vor drei Wochen getauft.


Ich habe zu ihr gesagt: „Sarah, jetzt geht es los. Du bist dran.“ Aber Sarah wollte nicht zu mir nach vorne kommen. Sie hat nach der Hand ihrer Mama gegriffen. Und als Mama dann mitgegangen ist, dann ist sie gekommen. Sie war nicht allein.


Jetzt steht sie an der Tür. Der Verstorbene ist ihr Opa. Sie hält die ganze Zeit die Hand ihrer Mutter. Ein Haushalt – das geht dann. Sie weiß nicht genau, was gerade passiert. Ich sehe sie an und sehe den ängstlichen Ausdruck in ihren Augen.


Ich sage: „Du bist nicht allein!“

Sie kennt das. Das habe ich ihr auch bei ihrer Taufe zugesprochen. Ihre Familie hat ihr dieses Versprechen als Taufspruch ausgesucht. Aus dem Alten Testament.


Er lautet: „Sei mutig und stark! Fürchte dich nicht und hab keine Angst; denn der Herr, dein Gott, ist mit dir bei allem, was du unternimmst.“ (Jos 1,9)


Du bist nicht allein. Gott ist bei dir.


Sarah versteht das. Mama ist bei mir. Ich kann mich sicher fühlen. An Mamas Hand kann ich auch solche Situationen wie jetzt überstehen.


„Es ist schlimm“, denke ich, „dass die alte Dame jetzt keine Hand halten kann. Das ist jetzt nötig, aber richtig traurig.“


Ich blicke die alte Dame an. Sie schaut zu mir und ich sage ihr dieses Versprechen Gottes zu: „Du bist nicht allein.“


Die alte Dame nickt. Sie blickt zur Tür und versucht, ihre Enkelin anzulächeln. Dann blickt sie zum Sarg. Auch ich wende mich dahin und denke: „Dieses Versprechen ist viel größer als wir ahnen.“


Ich sage zu dem Verstorbenen: „Du bist nicht allein.“


Liebe Gemeinde,


für Sarah, die alte Dame und auch Ihnen gilt diese Zusage Gottes: Du bist nicht allein. Ich wünsche Ihnen, dass Sie dies auch in ihrem Alltag immer wieder spüren!


Seien Sie mutig und stark und haben Sie keine Angst. Denn Gott ist bei Ihnen – was auch immer Sie unternehmen! Bleiben Sie behütet.


Pfarrer Dr. Paul Metzger


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