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Das Rad zurückdrehen


Das Rad zurückdrehen? Geht das überhaupt?


Natürlich nicht, wie jeder weiß.


Trotzdem wünschten wir manchmal, dass es möglich wäre, vor allem in ´Corona´-Zeiten. Da wird uns plötzlich bewusst, wie viele Dinge wir – ohne je darüber nachzudenken – für selbstverständlich hielten: Kontakte, so oft, so viele und solange wir wollten, menschliche Nähe nach unserem eigenen Ermessen.


Und jetzt? Fehlanzeige. Einschränkungen des menschlichen Miteinanders auf dem Verordnungsweg. Da möchte man das Rad zurückdrehen, weil uns bewusst wird, wie privilegiert wir bisher waren. Seuchen wie Pest und Cholera, so meinten wir in der Überlegenheit unseres Fortschrittsglaubens, gehörten der Vergangenheit an, Pandemie war nur ein Wort, das die Wenigsten von uns kannten.


Mit dem Wort lernten wir die Auswirkungen eines bisher unbekannten Virus - Covid 19 - kennen, das seit bald einem Jahr die ganze Welt in Atem hält. So schlimm dies wegen der Unberechenbarkeit der zukünftigen Entwicklung alles ist, wir könnten auch etwas daraus lernen: unsere Ansprüche zurückschrauben, etwas bescheidener werden, uns auf das besinnen, was wir wirklich brauchen.


Die Älteren von uns drehen dann gerne mal das Rad doch zurück, erinnern sich an ihre Kindheit, an ihre Jugend und die Nachkriegszeit. Anstatt einer Schlacht am kalten Buffet gab es einen Kampf um jedes Stück Brikett, um Kohle, die wir dringend brauchten, da wir im Winter oft im Kalten saßen.


Lebensmittelmarken machten Hamsterkäufe unmöglich, denn sie rationierten unseren Konsum. Ein Glas Wein war feierlichen Anlässen vorbehalten. In der gemeinsamen Waschküche bearbeiteten die Frauen die schwere Bettwäsche mit langen Stangen in einem großen Kessel. Schichtunterricht gehörte zur Tagesordnung, weil nicht genügend Klassenräume zur Verfügung standen. Die Aufzählung ließe sich fortsetzen….


Trotzdem empfanden wir all dies nicht als Mangel, weil wir den Mangel teilten und uns damit eingerichtet hatten.


Wir Kinder mussten uns ohne große Eingriffe der Erwachsenen selbst organisieren und haben dabei unsere eigenen sozialen Regeln aufgestellt. Ohne Solidarität, Gemeinsinn und gegenseitige Hilfe hätten wir das Leben nicht gemeistert und den Aufschwung nicht geschafft.


Glücklicherweise gibt es auch in der jetzigen Krise trotz auferlegter Einschränkungen viele eindrucksvolle Beispiele gelebter Mitmenschlichkeit. Niemand wünscht sich die Vergangenheit zurück.


Aber wenn wir ein wenig am Rad der Erinnerung drehen, können wir aus der Vergangenheit lernen und uns darauf besinnen, was einem jeden von uns für ein erfülltes Leben wirklich wichtig ist. Wir gewinnen damit auch ein Stück persönliche Freiheit.


Ursula Päßler


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