Mehr Licht


Jedes Jahr kommt mir im Frühling der gleiche Gedanke in den Sinn. Und jedes Jahr freue ich mich, wenn er mir durch den Kopf geht: Die Tage werden wieder länger.


Das ist natürlich Unsinn. Jeder Tag ist gleich lang. 24 Stunden. Im Winter wie im Sommer. Das ist mathematisch festgelegt und ist richtig. Ende.


Und trotzdem. Mathematik reicht eben nicht aus, um das Wesen des Menschen zu erklären. Wie viele Stunden ein Tag hat, ist für mich eigentlich völlig unwichtig. Meistens hat er sowieso nicht genug Zeit. Für all das, was ich noch machen muss. Ich muss noch telefonieren. Ich muss mich noch mit jemandem treffen. Ich muss noch einen Entwurf schreiben.


Jeder kennt das auf seine Weise. Sie sicherlich auch. Vielleicht ist Ihnen auch der schöne Spruch bekannt, der das Dilemma mit der Zeit auf den Punkt bringt:


„24 Stunden hat der Tag und wenn das nicht reicht, dann mache ich eben Überstunden.“


Wichtig ist also nicht, wie viele Stunden ein Tag mathematisch gesehen hat, sondern wie viel ich davon erlebe. Und mir geht es zumindest so, dass ich mich besser fühle, wenn es hell ist. Darum habe ich in meinem Haus viele verschiedene Lichter: die Deckenlampe, eine Stehlampe und eine Schreibtisch-lampe. Um die Dunkelheit zu vertreiben. Denn Dunkelheit und Kälte gehen in meiner Vorstellung Hand in Hand und beides mag ich nicht. Und das fällt mir gleich ein, wenn ich an Winter denke.


Winter kann ja auch bezaubernd sein. Wenn man nicht raus muss. Wenn man keine langen Wege fahren muss. Wenn man keine Termine hat.


Drei Männer stehen im Schnee und haben den Schneemann Casimir gebaut.


Erinnern Sie sich an den Film nach dem Roman von Erich Kästner? So einen Winter mag ich gern haben. In einem schönen Hotel, mit dem Schlitten in den idyllisch verschneiten Bergen. Aber das ist nicht meine Realität. Hier muss ich fahren, auch wenn Schnee liegt. Meine Arbeit hört nicht auf, wenn es regnet oder schneit.


Deshalb mag ich den Frühling lieber. Und wenn ich feststelle, dass die Tage wieder länger werden, dann heißt das: Die Sonne erhellt wieder die Welt. Mehr Stunden am Tag haben Licht. Und mit dem Licht kommt die Wärme. Die Natur lebt wieder auf. Und ich mit ihr.


An Weihnachten geht es wieder aufwärts.


Schon in prähistorischer Zeit beobachten Menschen, dass ab der sogenannten Wintersonnenwende im Dezember die Tage länger werden. Auf der Nordhalbkugel beginnt dann die Zeit des Aufblühens. Das Licht der Sonne wird wieder stärker und schenkt Pflanzen und Tieren wieder neues Leben.


Es ist deshalb ganz – im wahrsten Sinne des Wortes – einleuchtend, dass Jesus Christus mit der Sonne in Verbindung gebracht wird. Im Johannesevangelium (Joh 8,12) heißt es:


„Jesus sprach: Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben.“


Christus ist für uns die Sonne der Gerechtigkeit. Deshalb wird er an dem Tag geboren, an dem die Sonne nach julianischem Kalender wieder neu an Kraft gewinnt.


Für die antike Welt ist diese Aussage eine Revolution. Die Sonne soll kein Gott sein (so haben es die Römer aber geglaubt), sondern Gott hat die Sonne gemacht (so sagt es das 1. Buch Mose, die Genesis)?


Noch im 5. Jahrhundert n. Chr. muss der Kirchenvater Augustin (354-430), der Bischof von Hippo Regius (heute: Annaba/Algerien), seiner Gemeinde predigen, dass sie nicht wie die Ungläubigen die Sonne anbeten sollen, sondern den, der diese Sonne gemacht hat.


Jesus Christus ist unsere Sonne. Sein Licht scheint auf in unserer Finsternis, wie es im Johannesevangelium heißt (Joh. 1,5).


Im Frühjahr merke ich, wie diese Sonne die Dunkelheit vertreibt und mich neu aufatmen lässt. Es wird mir mehr Zeit geschenkt. Nicht an Stunden, aber an Lebensqualität. Meine Arbeit bleibt gleich. Meine Verpflichtungen sind in den „hellen“ Monaten oft noch mehr, weil viele Menschen im Winter abends nicht mehr so gerne aus dem Haus gehen.


Aber ich empfinde das nicht als gravierend. Wenn es hell ist, dann ist eben noch Tag. Und den Tag soll man nutzen. Wenn die Dunkelheit nicht so viel vom Tag abschneidet, dann fühle ich mich aktiver.


Zeit ist eben nur für die Mathematik und für die Deutsche Bahn eine objektive Größe (obwohl man gerade bei der Bahn auch ein recht flexibles Zeitempfinden zu haben scheint).


Zeit will mit Leben gefüllt sein. Dann erst ist Zeit wirklich „Lebenszeit“ und nicht einfach nur der Zeiger auf der Uhr, der unsere Existenz herunterzählt.


Im Frühjahr erwacht meine Zeit von Neuem. Durch das Licht und die Wärme. Und durch die Sonne Jesus Christus.


Und das jedes Jahr. Und jedes Jahr ist das ein Grund zum Staunen: Die Tage werden wieder länger.


Pfarrer Dr. Paul Metzger


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