Die politische und soziale Situation in Russland heute vor dem Hintergrund seiner historisch-kulturellen, ökonomischen und gesellschaftspolitischen Entwicklung
Kenntnis- und detailreich, mit vielen Erlebnissen und persönlichen Erfahrungen illustriert, vermittelte der Referent ein umfassendes und anschauliches Bild vom heutigen Russland.
Damit weckte er nicht nur Verständnis für das Land, sondern stellte auch Überlegungen an, wie sich unsere beiden Länder wieder näherkommen könnten.
Unser Blick auf Russland ist durch die Presse und die Medien oft eingeschränkt und auch einseitig. Demgegenüber entwarf Prof. Jann ein sehr viel differenzierteres Bild, das die grundlegenden Gegensätze in dem größten Land der Erde in dem Blick nahm.
Ein Vielvölkerstaat (rund 100 Volksgruppen unter Dominanz der Russen) mit fast allen Klimazonen, der eine Brücke zwischen Europa und Asien bildet und dadurch auch westlich und östlich geprägt ist, das ist die „Russische Föderation“ heute.
Nicht nur geographische Gegensätze, sondern auch historisch-kulturelle Unterschiede bestimmen das Bild. Neben Russisch als allgemein gültiger Amtssprache werden schätzungsweise 100 weitere Sprachen in den Volksgruppen gesprochen.
Russland blickt auf eine sehr wechselvolle Geschichte zurück, deren Spuren bis ins 9. Jahrhundert zurückführen. Den Zarentitel begründete Iwan IV (Beiname „der Schreckliche“). Die bekannteste Zarendynastie waren die Romanoffs mit Peter I (der Große, 1672 -1725), das Russland nach Westen öffnete und den Zarentitel gegen den Kaisertitel tauschte. Die nach ihm benannte Stadt Petersburg ließ er von westlichen Architekten erbauen und machte sie zur Hauptstadt. Er stand für Modernisierung und Reformen nach westlichem Muster (Schiffsbau, Wissenschaften und Kultur). Nach seinem Tod gingen Reformen und Modernisierung zum Teil wieder verloren.
Ein Jahrhundert später brachte der strenge russische Winter dann Napoleons Russland-Feldzug zum Scheitern (vgl.Hitler!) und der 2. Weltkrieg führte – nach Abdankung und Ermordung der Zarenfamilie - zu einem totalen Umschwung des politischen Systems: statt Zarismus herrschten nun Kommunismus mit Planwirtschaft und Stalinismus mit Massendeportationen und Hinrichtungen auch eines großen Teils der russischen Elite.
Mit „Gorbi“, M. Gorbatschow, dem Sympathieträger des Westens, der Deutschlands Wiedervereinigung ermöglichte, erfolgte wiederum eine Öffnung zum Westen, die allerdings in Russland selbst kritisch gesehen wurde, da sie Gebietsverluste zur Folge hatte
Unter seinem Nachfolger, B. Jelzin, breitete sich ein ungebremster Kapitalismus aus mit der Folge, dass breite Schichten der Bevölkerung immer mehr verarmten, während sich die sog. Oligarchen (wenige Parteifunktionäre an der Spitze der politischen Klasse) immer skrupelloser bereicherten.
Demgegenüber wurde und wird W. Putin als neuer Hoffnungsträger angesehen, als starker Herrscher, der Russland – auf der Grundlage seiner enormen Bodenschätze (Gas, Öl etc.) - als neue, unabhängige Weltmacht etablieren möchte.
So hat er nach Jahren des strikten Atheismus (Stalin!) auch eine neue Annäherung an die russisch-orthodoxe Kirche vollzogen, sie aber weitgehend dem Staat unterstellt. Presse und Fernsehen werden verstärkt zensiert.
Das Bild des heutigen Russlands ist weiterhin von politischen und sozialen Gegensätzen geprägt mit einer Jugend, die Orientierung sucht, Frauen, die als das starke Geschlecht im Konflikt zwischen der Verantwortung für die Familien und beruflicher Emanzipation stehen und einer Personengruppe am Rand der Gesellschaft: ganz besonders Alleinerziehende, Behinderte, Alte und Kranke.
Der Staat übernimmt keine soziale Verantwortung und die Demokratie ist im Volksbewusstsein nicht verankert.
Trotzdem gibt es immer Hoffnung auf Verbesserungen, denn die russische Mentalität hat sich nicht wesentlich geändert:
Schicksalsergebenheit auf der einen Seite - und der Versuch, aus allem das Beste zu machen auf der anderen - stehen sich gegenüber, Kapitalisten und Nicht-Kapitalisten. Weltoffenheit wird mit nationalem Denken vereint.
Der Gleichheitsgedanke (die Identität und die Solidarität innerhalb einer Gruppe wie der Familie) ist immer noch vorhanden. Trotzdem werden die alten Werte zunehmend in Frage gestellt.
Die zukünftige Entwicklung ist nach Prof. Jann nicht vorhersehbar.
Aufgrund seiner vielfältigen Kontakte als Gastdozent und im Austausch mit Schulen und Menschen mit Behinderungen hat er mit Unterstützung der Caritas im Sinne A. Kolpings verschiedene Hilfsorganisationen für sozial Benachteiligte gegründet und reist mit Hilfsgütern (z.B. Hörgeräten) immer wieder nach Russland.
So wie in der Vergangenheit wünscht er sich wieder mehr Berührungen und eine stärkere Annäherung zwischen unseren beiden Ländern. Uns bleiben nur die Unterstützung und der Dank für sein vielfältiges Engagement.
Ursula Päßler
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